Aussteigen
Haftung eines Kraftfahrers bei Verletzung eines mit dem Ein- oder Aussteigen aus einem Kraftfahrzeug beschäftigten Fußgängers.
Wer an einem haltenden Fahrzeug oder einem sonstigen Hindernis auf der Fahrbahn vorbeifahren will, muss einen ausreichenden Sicherheitsabstand einhalten und vor allem Personen am haltenden Kraftfahrzeug berücksichtigen. In der Regel genügt ein Sicherheitsabstand von einem Meter. An rechts parkenden, ersichtlich leeren Fahrzeugen wird teilweise die Ansicht vertreten, dass auch mit weniger als 1 Meter seitlichem Abstand vorbeigefahren werden darf.
Demgegenüber bestehen erhöhte Sorgfaltspflichten beim Ein- und Aussteigen aus einem Fahrzeug. Hierbei muss sich der Ein- oder Aussteigende so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Wer die linke Wagentür in Richtung der Fahrbahn öffnet, muss demnach zunächst nach hinten beobachten. Reicht der Rückblick nicht weit genug, darf die Tür nur langsam spaltweise geöffnet werden, weiter erst, wenn sich mit Gewissheit kein Fahrzeug nähert. Ein Türöffnen nach rechts in den Bereich eines dort befindlichen Fahrrad- und Fußgängerweges unterliegt den selben strengen Regeln. Weder Radfahrer noch Fußgänger auf dem Rad- beziehungsweise Gehweg dürfen gefährdet werden.
Nach einer Entscheidung des Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe vom 18. Mai 2012 kommt eine 100prozentige Haftung des PKW-Fahrers in Betracht, wenn er im Vorbeifahren eine auf der Fahrbahn befindliche Fußgängerin streift und dadurch verletzt, die sich anschickt in ihr geparktes Fahrzeug einzusteigen. Voraussetzungen für eine 100prozentige Haftung des PKW-Fahrers ist in einem derartigen Fall, dass weder die Vorschrift des § 14 Absatz 1 Strassenverkehrsordnung (StVO) mit der dort geregelten erhöhten Sorgfaltspflicht beim Ein- oder Aussteigen aus dem PKW Anwendung findet, noch ein schuldhafter Verkehrsverstoß der Fußgängerin nachweisbar ist.
Zum Anwendungsbereich des § 14 Absatz 1 StVO führt das Gericht aus, die Vorschrift komme nur dann zur Anwendung, wenn ein „Ein- oder Aussteigen“ zum Unfall beigetragen hat.
Hiervon könne dann gesprochen werden, wenn ein Öffnen der Fahrzeugtür zum Unfall beigetragen hat. War die Fahrzeugtür zum Zeitpunkt des Unfalles jedoch - wie im vorliegenden Fall - geschlossen, komme diese Vorschrift nicht zur Anwendung. Zum fehlenden Verschulden der Fußgängerin führt das Gericht aus, ihr könne auch nicht deshalb ein Vorwurf gemacht werden, in dem sie auf die Fahrbahn getreten ist und neben der Fahrzeugtür ihres geparkten Fahrzeuges stand, um einzusteigen. Dadurch habe sie keine Pflichten im Straßenverkehr verletzt.
Um in ihr Fahrzeug einzusteigen, sei ihr keine andere Möglichkeit geblieben, als so zu handeln. Die Fußgängerin ist auch zu einem Zeitpunkt auf die Fahrbahn neben die Tür ihres Fahrzeuges getreten, als sich noch keine Fahrzeuge näherten. Das Fahrzeuge an ihr vorbei fahren wollten, konnte sie erst erkennen, als sie sich bereits neben ihrem eigenen Fahrzeug befand. Zu diesem Zeitpunkt war ihr keine andere Möglichkeit mehr verblieben, als sich eng an ihren PKW zu drücken, um ein Vorbeifahren der anderen Fahrzeuge zu ermöglichen. In dieser Situation habe die Fußgängerin deshalb alles getan, um einen Unfall mit dem vorbeifahrenden Fahrzeug zu vermeiden.
Zur Anrechnung der Betriebsgefahr des parkenden Kraftfahrzeugs ist von Bedeutung, dass die Betriebsgefahr auch bei ungeöffneter Tür des parkenden Fahrzeugs grundsätzlich berücksichtigt werden kann. Das ist der Fall, solange das Kraftfahrzeug im Verkehr verbleibt, mithin den Verkehr irgendwie beeinflussen kann. Das OLG Karlsruhe kommt im entschiedenen Fall zu dem Ergebnis, dass eine mitwirkende Betriebsgefahr des geparkten Fahrzeugs hinter dem erheblichen Verschulden des vorbeifahrenden Kraftfahrers zurücktritt, da dieser keinen ausreichenden Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter beim Vorbeifahren eingehalten hat.
Hätte die einsteigende Fußgängerin jedoch die Fahrzeugtür zu ihrem Fahrzeug bereits zum Einsteigen geöffnet, wäre der Anwendungsbereich des § 14 Absatz 1 StVO eröffnet gewesen.
Wegen der strengen Sorgfaltsanforderungen für das Ein- oder Aussteigen aus Kraftfahrzeugen gemäß dieser Vorschrift hätte ein Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Fußgängerin beim Ein- und Aussteigen gesprochen. Zu einer 100prozentigen Haftung des Kraftfahrers wird man dann in den seltensten Fällen gelangen. Zum einen wird es schwierig sein, den Anscheinsbeweis, welcher für ein Mitverschulden des ein- oder aussteigenden Fußgängers spricht, zu erschüttern. Zum anderen ist für eine 100prozentige Haftung immer erforderlich, dass der Verursachungsanteil und/oder das Verschulden des Haftenden derart überwiegt, dass die Betriebsgefahr des unfallgegnerischen Fahrzeuges demgegenüber zurücktritt.
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