Unfallversicherung II
Grundlagen zum Unfallbegriff in der privaten Unfallversicherung.
Ansprüche aus einem privaten Unfallversicherungsvertrag kommen nur dann in Betracht, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. So lautet die Kernvorschrift des § 1 Allgemeine Unfallversicherungsbedingungen (AUB).
Der Unfallbegriff setzt zunächst ein Ereignis voraus.
Der Begriff enthält ein dynamisches Moment und erfasst alle Vorgänge, deren schädliche Wirkung nicht auf Eigenschaft und Handlungsweise des Betroffenen selbst beruht, sondern ihn unabhängig in einer Weise davon trifft, die gleichsam jedermann widerfahren kann. Ereignisse können natürliche Vorgänge, zum Beispiel Stürze, Kollisionen mit Sachen, aber auch menschliche Handlungen sein. Hierbei kommen nicht nur mechanische, sondern auch chemische, thermische oder elektrische Vorgänge in Betracht. Das Ereignis kann auch in der Vorenthaltung oder dem Entzug lebenswichtiger Substanzen wie Sauerstoff oder Nahrung liegen. Selbst sinnliche Wahrnehmungen wie Hören und Sehen von Ereignissen wird als Einwirkung angesehen (Grimm aaO Rdnr. 29 m.w.N.; Wussow/Pürckhauer Unfallversicherung Kommentar 6. Aufl. § 1 Rdnr. 46).
Nach herrschender Meinung können auch mehraktige Vorgänge als Unfallereignisse, die unter den Unfallversicherungsschutz fallen, angesehen werden. So zum Beispiel das Verschlucken eines Zahnstochers im ersten Akt, welcher dann im zweiten Akt den Darm durchbohrt. Auch ein gedehnter Versicherungsfall kann als ein Unfallereignis angesehen werden. Davon kann gesprochen werden, wenn nicht ein schrittweises Eintreten mehrerer Teilereignisse vorliegt, sondern der mit einem Ereignis eingetretene Zustand über einen - mehr oder weniger langen - Zeitraum fortdauert.
Mehrere einzelne Unfallereignisse sind grundsätzlich getrennt zu sehen.
Dies gilt jedoch nach einer Entscheidung des Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main nicht, wenn ein späterer Unfall auf einer Gesundheitsbeeinträchtigung beruht, die Folge des früheren Unfalls war (OLG Frankfurt am Main VersR 2002, 48). In dem zu Grunde liegenden Streitfall hat die versicherte Person zwei zeitlich von einander getrennte Stürze erlitten. Dabei hatte der zweite Sturz einen weitergehenden Gesundheitsschaden zur Folge. Dieser zweite Sturz beruhte darauf, dass aufgrund des ersten Unfalls eine Halbseitenparese eingetreten war.
Von einem plötzlichen Ereignis spricht man, wenn dieses innerhalb eines kurzen begrenzten Zeitraumes eintritt und wirkt.
Je nach Einzelfall liegen diese Voraussetzungen vor, wenn sich die versicherte Person aufgrund des zeitlichen Rahmens nicht mehr vor den Folgen des Ereignisses schützen kann. Zum Beispiel wurde als kurzer Zeitraum eine zweistündige Operation, eine 40 Minuten dauernde Bestrahlung oder das einige Stunden dauernde Ausströmen von Gas aus einem Ofen angesehen. Demgegenüber wurden Verbrennungen eines an Diabetes mellitus Erkrankten nach fünfminütigem Laufen auf durch Sonneneinstrahlung erhitzten Platten nicht als plötzlich angesehen. Auch wenn das Ereignis nicht innerhalb eines kurzen Zeitraum eingetreten ist, kann unter besonderen Voraussetzungen das Merkmal der Plötzlichkeit bejaht werden. Hiervon kann ausgegangen werden, wenn der Eintritt des Ereignisses für den Betroffenen unerwartet, unvorhergesehen und unentrinnbar war.
In einer Entscheidung vom 10. Januar 2012 (VersR 2012, 715) hat das Oberlandesgericht München klargestellt, das Merkmal der Plötzlichkeit stelle in erster Linie ein zeitliches Element des Unfallbegriffs dar. Das zusätzliche Element des Unerwarteten, Unvorhergesehen und Unentrinnbaren ermögliche es auch dann einen Unfall zu bejahen, wenn das Ereignis nicht nur innerhalb eines kurzen Zeitraums eingewirkt hat. Wenn das zeitliche Element der Unfalldefinition erfüllt ist, sei Plötzlichkeit jedoch unabhängig davon gegeben. Deshalb schließe auch ein geplanter und nach Plan ablaufender Vorgang ein plötzliches Ereignis nicht aus. Im Streitfall rief der Abschlag eines Balls beim Fußballspielen durch den Aufprall des Balls auf den Vorderfuß einen Muskelriss hervor.
Die Gerichte beschäftigen sich auch immer wieder mit einem weiteren Merkmal des Unfallbegriffs, wonach das Ereignis von außen auf den Körper der versicherten Person wirken muss.
Hiervon wird immer dann gesprochen, wenn Kräfte einwirken, die außerhalb des Einflussbereichs des eigenen Körpers liegen. Dabei ist allein das Ereignis in den Blick zu nehmen, dass die Gesundheitsschädigung unmittelbar herbeiführt. Das Unmittelbarkeitserfordernis ist zum Beispiel erfüllt, wenn eine Gesundheitsschädigung oder der Tod der versicherten Person beim Herunterschlucken einer von außen in den Körper gelangten Speise eintritt.
Nach der Rechtsprechung stellt das Anheben schwerer Gegenstände alleine ohne Hinzutreten weiterer Umstände kein von außen wirkendes Ereignis im Sinne des Unfallbegriffes dar. Die von der versicherten Person aufgewandte Kraftanstrengung zur Überwindung der Schwerkraft ist nicht als ein "von außen" auf den Körper wirkendes Ereignis im Sinne des Unfallbegriffs zu qualifizieren. Die Schwerkraft von Gegenständen an sich stellt demnach kein Unfallereignis dar. Ihr fehlt jedes dynamisches Element, das dem Ereignisbegriff inne wohnt, weil sie ganz unabhängig von jeglicher menschlichen (oder sonstigen) Einwirkung aufgrund der Naturgesetze existiert (BGH r+s 1989, 166; VersR 1988, 242; OLG Hamm r+s 1995, 79).
Kraftanstrengungen können unter bestimmten Voraussetzungen unter den Unfallbegriff fallen, wenn sie nicht gänzlich willensgesteuert ablaufen.
Maßgeblich ist dabei die Bewegungsstörung von außen. Die Bewegung muss anders verlaufen oder enden als geplant damit von einer Einwirkung von außen im Sinne des Unfallbegriffs ausgegangen werden kann. Beim Anheben von Gegenständen kann eine Einwirkung von außen vorliegen, wenn die versicherte Person beim Anheben feststellt, dass der Gegenstand wesentlich schwerer ist, als zuvor vermutet und sich deswegen ein Verhebetrauma zuzieht. In einem derartigen Fall kann - anders als beim bloßen Tragen eines Gegenstandes - durchaus davon gesprochen werden, dass der anzuhebende Gegenstand aus der Außenwelt aktiv auf den Versicherten einwirkt. Der Grund für diese Sichtweise liegt darin, dass allein aufgrund der fehlerhaften Vorstellungen der versicherten Person vom Gewicht des anzuhebenden Gegenstandes die Anhebebewegung anders abläuft als geplant oder abgebrochen werden muss.
Ein weiteres Merkmal des Unfallbegriffs ist, dass die versicherte Person eine unfreiwillige Gesundheitsschädigung erleiden muss.
Die Unfreiwilligkeit wird zum Beweis des Gegenteils zugunsten der versicherten Person vermutet. Will sich der Versicherer auf eine freiwillige Herbeiführung der Gesundheitsschädigung berufen, ist er nachweispflichtig. Die Unfreiwilligkeit scheitert nicht bereits daran, dass das Unfallereignis durch eigenes vorsätzliches Handeln herbeigeführt wurde. Auch wer sich bewusst einer Gefahr aussetzt, erleidet die dann eintretende Gesundheitsschädigung unfreiwillig, selbst wenn er sich diese als möglich vorstellt, aber darauf vertraut, sie werde nicht eintreten.
Selbst bei gefährlichen Sportarten kann die Unfreiwilligkeitsvermutung nicht ohne Hinzutreten weiterer Umstände widerlegt werden. Ein Sportler wird regelmäßig darauf vertrauen, dass die Gesundheitsschädigung nicht eintreten wird (OLG München VersR 2012, 715). Die Unfreiwilligkeitsvermutung kann jedoch widerlegt werden. Zum Beispiel wenn feststeht, dass die Unfallschilderung des Versicherten nicht zutreffen kann, weil sie in wesentlichen Punkten nicht mit der Realität oder mit objektiven ärztlichen Befunden über das Verletzungsbild in Einklang zu bringen ist (OLG Hamm VersR 2012, 1550 m.w.N.).
Letztendlich muss das Unfallereignis zu einer Gesundheitsschädigung bei der versicherten Person geführt haben.
Der Tod der versicherten Person wird von diesem Begriff mit umfasst, da der Eintritt des Todes nicht ohne Gesundheitsschädigung einhergehen kann. Grundsätzlich setzt eine Gesundheitsschädigung die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit voraus, wobei dies objektiv nach den Regeln der ärztlichen Kunst festgestellt werden muss. Es genügt nicht, wenn sich die versicherte Person lediglich geschädigt fühlt.
Auf die Erheblichkeit der Gesundheitsschädigung kommt es aber nicht an. Vielmehr können auch geringfügige Verletzungen eine Gesundheitsschädigung im Sinne des Unfallbegriffs darstellen. Es genügt, wenn eine als solche unerhebliche Körperbeschädigung die Voraussetzung für weitere auf den Verletzten einwirkende Ursachen schafft (Vgl. auch Prölss/Martin, VVG 28. Aufl. § 178 VVG, Rdnr. 17). Auch wird die Ansicht vertreten, dass bloße, auch kurzfristige Schmerzempfindungen sowie psychische und nervöse Störungen für das Vorliegen einer Gesundheitsschädigung ausreichen (ÖOGH VersR 2004, 935).
Regelmäßig wird in den Versicherungsbedingungen zur privaten Unfallversicherung auch ein erweiterter Unfallbegriff vereinbart.
Danach wird ein Unfall fingiert, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule ein Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Sehnen, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden. Der Versicherungsschutz wird dadurch auf innerkörperliche Vorgänge, zum Beispiel Eigenbewegungen erweitert, für Fälle, bei denen eine erhöhte Kraftanstrengung zu Gesundheitsschädigungen führt. Welcher Maßstab bei der Beurteilung, ob eine erhöhte Kraftanstrengung vorliegt, anzulegen ist, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich gesehen.
Bei der Bemessung der Invalidität ist es sachgerecht, für die Funktions- beziehungsweise Gebrauchsbeeinträchtigung als Maßstab die Leistungsfähigkeit eines Unversehrten gleichen Alters und Geschlechts zugrunde zu legen. Bei der Frage, ob die Voraussetzungen der erhöhten Kraftanstrengung vorliegen, erscheint es demgegenüber eher geboten, die bei der versicherten Person konkret vorliegende Situation zu berücksichtigen. Es handelt sich hier um Voraussetzungen für den Eintritt des Versicherungsfalls. In der privaten Unfallversicherung bezieht sich der Versicherungsfall auf die konkret versicherte Person und nicht auf eine Durchschnittsperson gleichen Alters und Geschlechts. Was für den einen Versicherten erhöhte Kraftanstrengung ist, braucht es für den anderen nicht zu sein (Wussow WI 91, Brief Nr. 42).
Die versicherte Person muss das Vorliegen der Voraussetzungen des Unfallbegriffs mit Ausnahme der Unfreiwilligkeit nachweisen.
Allerdings werden an den Nachweis keine hohen Anforderungen gestellt. Eines Nachweises bedarf es insbesondere dann nicht, wenn die Gesundheitsschädigung nur durch ein Unfallereignis entstanden sein kann. Unklarheiten zum Unfallablauf bleiben zu Gunsten der versicherten Person dann unerheblich, wenn von der Art der Verletzung auf ein Unfallereignis geschlossen werden kann (Prölss/Martin aaO Rdnr. 24).
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